Alles Geschmackssache: Sensorik an der Bar

Gastbeitrag  von Maria Gorbatschova

„Geschmäcker sind verschieden.” Dieser Satz fällt häufig, wenn wir über Präferenzen unserer Gäste, Kollegen oder von uns selbst sprechen. Ich behaupte, dass vielen von uns die volle Tragweite dieser Aussage nicht bewusst ist. Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren zeigen einen neuen Blickwinkel auf unsere Aromen-Wahrnehmung und bieten zahlreiche Denkansätze, gerade für Bars und Restaurants.

 

Wie funktioniert Sensorik?

Sensorik beginnt bereits bevor wir etwas probieren orthonasal, sprich durch unsere Nase. Gerüche sind im Grunde volatile Bestandteile unserer Umgebung, also chemische Stoffe die in verdunsteter Form unsere Nase erreichen. Mit dem Einatmen werden sie zur Riechschleimhaut in der oberen Nasenhöhle transportiert. Daneben ist unsere Nase mit Schmerzrezeptoren ausgestattet, die zum Beispiel aktiviert werden, wenn man an Chili oder stark kohlensäurehaltigen Getränken riecht.

 

Die fünf Geschmäcker

Essen oder trinken wir etwas, nimmt unsere Zunge über Geschmacksrezeptoren Geschmäcker wahr. Von denen gibt es fünf: süß, salzig, umami, sauer und bitter. Umami wurde übrigens erst 2000 als Geschmack nachgewiesen. Das die Rezeptoren für je einen der Geschmäcker sich in bestimmten Regionen bündeln ist übrigens eine längst überholte Vorstellung, die leider noch immer häufig zitiert wird. In Wirklichkeit sind alle Rezeptoren überall auf der Zunge verteilt, man kannst süß also nicht nur auf seiner Zungenspitze schmecken, wie manchmal behauptet wird.

 

Wahrnehmung über den Geschmack hinaus

Abgesehen von Geschmacksrezeptoren passiert im Mund aber noch viel mehr. Wir können feststellen, ob etwas heiß oder kalt ist, oder auch kühlend wie Menthol. Unser Mundgefühl kann zwischen Eindrücken wie adstringierend, metallisch, viskos oder fettig unterscheiden. Wir analysieren auch durch Berührung, ob etwas knusprig, klebrig oder fluffig ist. Unsere Schmerzrezeptoren registrieren Scharfes oder auch das Brennen von Alkohol. Das ist schon eine ganze Menge, und doch nicht genug, um uns zu informieren, ob ein Weingummi nach Kirsche oder Orange schmeckt.

So werden Aromen wahrgenommen

Das, was wir nicht ganz korrekt „Geschmack” nennen, also besser formuliert das Aroma von Lebensmitteln, können wir nur retronasal erfahren. Das bedeutet, dass durch Atmen, Kauen und Schlucken volatile Stoffe über unseren Rachenraum zur Riechschleimhaut transportiert werden. Diese sendet die Informationen an unseren Riechkolben und damit ins Gehirn, genau wie es beim orthonasalen Geruch der Fall ist. Wo liegt also der Unterschied? Nehmen wir retronasal nicht einfach dasselbe wie in der Nase wahr? – Ja und nein. Elemente des orthonasalen decken sich häufig mit der retronasalen Wahrnehmung. So riecht und schmeckt ein Karamellbonbon sicherlich sehr ähnlich. Orthonasale und retronasale Wahrnehmung können sich allerdings auch stark unterscheiden. Gerade als Bartender haben wir sicherlich schon etwas verkostet, bei dem die Nase nicht zum „Geschmack” gepasst hat oder im Nachhall gänzlich andere Aromen freigelegt wurden. Was passiert also dazwischen?

 

Maria Gorbatschova aus der Green Door Bar in Berlin hielt bereits auf dem BCB 2021 einen  mitreißenden Vortrag zum Thema Sensorik.

Was in unserem Mund passiert

Zum einen wird in unserem Mundraum die Temperatur des Drinks (oder der Speise) verändert, ein kühler Wein oder Cocktail wird aufgewärmt und setzt dadurch mehr volatile Stoffe frei. Zum anderen reagieren Nahrungsmittel mit unserem Speichel. Dieser enthält Enzyme, Stoffe, die unser Körper bildet, um z.B. unseren Stoffwechsel zu regulieren. Enzyme spalten Moleküle und setzen so in unserem Mund Stoffe frei, die dann retronasal wahrgenommen werden können. Das Faszinierende dabei ist, dass die Zusammensetzung unseres Speichels komplett individuell ist. Sie ist genetisch bedingt und bei uns allen unterschiedlich. Das hat auch Auswirkungen auf unsere aromatische Wahrnehmung.

 

Der Grund für unterschiedliche Wahrnehmungen

2018 wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass manche Menschen keinen Kohl mögen, weil Bestandteile ihres Speichels Schwefel freisetzen und unangenehm schmeckbar machen. Nicht nur im Speichel finden sich Variationen, auch wie ein und dasselbe Molekül in den olfaktorischen Rezeptoren der Riechschleimhaut wahrgenommen wird hängt von genetischen Faktoren ab. Das bekannteste Beispiel hierfür ist vermutlich das Aroma von Koriander, das von zahlreichen Menschen als seifig und unangenehm wahrgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit für solche genetischen Abweichungen häuft sich auch je nach Region. Während in den Ländern Südasiens 3-7% aller Einwohner Koriander meiden sind es in Ostasien ganze 21%. Diese Beispiele dürften nur die Spitze des Eisbergs sein.

 

„Blindheit” und Unterschiede in Intensität der Aromen möglich

Nicht nur abweichende Wahrnehmungen derselben Aromen sind möglich. Wir können sogar anosmisch, also komplett „blind” für sie sein. 1% der Weltbevölkerung kann das Aroma von Vanille nicht wahrnehmen. Theoretisch könnten alle möglichen Aromen davon betroffen sein, über 10.000 können von Menschen wahrgenommen werden. Es ist durchaus denkbar, dass viele von uns anosmisch auf etwas Bestimmtes reagieren, und es nie herausfinden, weil man nicht weiß, was fehlt.

Es sind auch Unterschiede in der Intensität der Wahrnehmung möglich. Während eine Person ein bestimmtes Aroma als sehr intensiv empfindet kann der Andere es kaum wahrnehmen.

 

Supertaster und Non-Taster

Im Zusammenhang mit der Intensität von Aromen wären da noch Supertaster und Non-Taster zu erwähnen. Beide Gruppen machen grob 25% der Weltbevölkerung aus, dazwischen sind 50% aller Menschen durchschnittliche Verkoster. Supertaster haben wesentlich mehr Rezeptoren auf ihrer Zunge und sind damit sensibler für Geschmäcker. Vor allem Bitteres kann für sie kräftiger und unangenehm schmecken, aber auch Tannine oder Säure werden zum Beispiel bei Weinproben intensiver wahrgenommen. Supertaster mögen häufig keine fettige Nahrung und meiden Zuckerreiches. Sie wiegen im Schnitt weniger, sind wählerische Esser, konsumieren weniger Alkohol als Non-Taster und haben häufig eine Aversion gegen Lebensmittel wie Kaffee, Grapefruit oder dunkle Schokolade. Ihre Geschmackswahrnehmung verhält sich zu der von Non-Tastern etwa wie Neonfarben zu Pastell.

 

Verteilung Supertaster und Non-Taster

Die statistische Verteilung von Supertastern ist stark an Herkunft und Geschlecht gebunden. Frauen sind doppelt so häufig Supertaster wie Männer. Menschen aus Asien oder Afrika wesentlich häufiger als Menschen europäischer Herkunft. Non-Taster sind dagegen am häufigsten weiße Männer. Der eigene Status lässt sich mit einem einfachen Test überprüfen, der online zu finden ist.

 

Was tun, falls man sich als Non-Taster identifiziert und an der Bar arbeitet?

Zuerst einmal Ruhe bewahren, denn Geschmack ist nur ein Teil der Aromen Wahrnehmung. Und doch ist er für Bartender, die à la minute mit Süße-Säure Balancen und bitteren Zutaten arbeiten, nicht gerade unrelevant. In jedem Fall lohnt es sich ein diverses Team einzustellen und Rezepturen gemeinsam zu entwickeln oder zu verkosten. Dabei sollte jede Kritik angenommen und ernstgenommen werden. Auch ein sehr erfahrener Kollege kann sich seine möglichen sensorischen Einschränkungen nicht einfach wegtrainieren. Da ist die Meinung eines Servicemitarbeiters oder Gasts ebenso viel Wert wie seine und sollte auch so behandelt werden.

 

„Der wichtigste Gaumen ist immer der unserer Gäste”

Beim Blick in den Gastraum lohnt es sich, eine gute Servicestrategie für Empfehlungen und Beschwerden zu entwickeln. Geschmack ist subjektiv. Verletzter Bartenderstolz ist also Fehl am Platz, wenn ein Drink mal zurück geht, ebenso Kommentare zu Sonderwünschen und Präferenzen. Der Gast an der Bar hat gerade einen Negroni zurückgeschickt, weil er zu kräftig und zu bitter sei? Obacht, es besteht eine gute Chance, dass diese Person besser schmecken kann, als man selbst. Mit etwas Empathie und Fingerspitzengefühl wird ihr die zweite Runde besser schmecken. Der wichtigste Gaumen ist immer der unserer Gäste. Wir leben in verschiedenen Geschmackswelten. Einerseits verkompliziert das unseren Job, andererseits macht uns das Wissen darum zu besseren Bartendern.